LAVANDIA Heute stellen wir euch in der Sendung zum ersten Mal einen ganz bestimmten Ort aus einem Videospiel in aller Ausführlichkeit vor: Passend zum nahenden Halloween-Fest unternehmen wir heute eine gemeinsame Reise nach Lavandia, die Geisterstadt aus "Pokémon Rot & Blau". Lavandia liegt im Osten von Kanto und ist zusammen mit der Startstadt Alabastia eine von zwei Ortschaften im ganzen Land, in denen es keine Arena gibt. Wie bei allen anderen Städten in Kanto, basiert auch hier der Name auf einer Farbe bzw. Material: Lavandia leitet sich ab von Lavendel, und entsprechend ist auch die ganze Stadt in einem stimmungsvollen Violett gehalten. Das wichtigste Bauwerk in Lavandia ist der Pokémon-Turm. Er dient als mehrstöckiger Pokémon-Friedhof: In jeder Etage sind zahlreiche Gräber angelegt, wo die von uns gegangenen Monsterchen ihre letzte Ruhe finden. Einige finden aber auch keine Ruhe und spuken nun als Geist-Pokémon durch den Turm: Hier ist der einzige Ort in ganz Kanto, an dem ihr Nebulak schnappen könnt. Obwohl es in Lavandia keine Arena gibt, ist der Ort doch wichtig für den Story-Verlauf: Team Rocket hat die Tragossos, die hier leben, eingefangen, um ihre Knochenmasken zu Geld zu machen. Ein Knogga, das die Mutter von einem der kleinen Tragossos war, ist dabei ums Leben gekommen. Nachdem ihr als Spieler Team Rocket in Prismania City in seine Schranken verwiesen habt, erhaltet ihr das Silph Scope, mit dem ihr selbst Geister sehen könnt. Nun ist es euch möglich, den Geist des Knogga aufzuspüren: Das befreite Tragosso kann sich nun endlich von seiner Mutter verabschieden, und sie kann endlich Ruhe finden. Das kleine Tragosso bringt ihr schließlich ins Pokémon-Waisenhaus von Mr. Fuji und erhaltet von diesem als Dankeschön die PokéFlöte, die es euch ermöglich, weiter westlich das Relaxo aufzuwecken, das bislang den Weg blockiert hat, und endlich eure Reise fortzusetzen. Die Geschichte mit dem verstorbenen Knogga ist für ein harmloses Kinderspiel vielleicht schon ein wenig schockierend, aber das war volle Absicht der Entwickler - vermutlich wollte man so zeigen, dass auch in der Pokémon-Welt nicht alles eitel Freude Sonnenschein ist. Aus diesem Grunde wurde auch die Musik von Lavandia bewusst so komponiert, dass man sich in der Stadt unwohl fühlen soll - und damit schufen die Entwickler einen der bekanntesten Videogame-Mythen! Die ursprüngliche Lavandia-Musik, so wie sie in den japanischen Erstauflagen von "Pokémon Rot & Grün" zu hören war, enthält so genannte "binaurale Beats", das sind - vereinfacht gesagt - unhörbare schiefe Töne, die wie Fremdkörper im Lied wirken. Obwohl man diese Töne nicht bewusst hören kann, so kann man sie doch unterbewusst wahrnehmen, und das sorgt dafür, dass die Musik für schlechte Stimmung sorgt. Möglicherweise hat es Game Freak mit den binauralen Beat aber etwas zu sehr übertrieben, denn schnell kamen Gerüchte auf, dass die Lavandia-Musik tatsächlich Kinder in den Selbstmord treibt. Tatsache ist, dass Japan eine der höchsten Selbstmordraten weltweit unter Kindern und Jugendlichen hat, das hängt in erster Linie mit dem harten Schulsystem zusammen. Tatsache ist natürlich auch, dass zahlreiche von den Kindern, die damals Selbstmord begingen, zuvor "Pokémon" gespielt hatten - was nun aber nicht zwingend einen Zusammenhang bedeuten muss, denn generell war und ist "Pokémon" ein sehr erfolgreiches Spiel, das eben einfach fast jeder gespielt hat. Die Legende, dass die Lavandia-Musik Kinder in Scharen in der Selbstmord treibt, ist also höchstwahrscheinlich nichts weiter als ein urbaner Mythos - trotzdem ging Nintendo auf Nummer sicher und entfernte die binauralen Beats in späteren japanischen Auflagen und in allen westlichen Releases. Dass mit der ursprünglichen Lavandia-Musik irgendwas nicht stimmt, das ist nämlich nicht von der Hand zu weisen. Es gibt die Möglichkeit, Audiospuren zu visualisieren, sowas nennt sich "Spectogramm", selbst die bekannte Freeware-Audio-Software "Audacity" hat diese Funktion mit an Bord. Wikipedia behauptet im Artikel über das Lavandia-Syndrom, es seien Photoshop-Fakes, wenn in der visualisierten Audiospur plötzlich das Bild des Geistes zu sehen ist, aber auch bei mir zeigt das Programm den Geist tatsächlich an - Screenshot kriegt ihr im Chat! Kurz hinter dem Geist müsste eigentlich auch noch das Buchstaben-Pokémon Icognito erscheinen und den Satz "Leave now", also "Verschwinde jetzt" bilden, das hat mir "Audacity" allerdings beim Selbsttest unterschlagen. Auch in Anime und Manga spielt Lavandia eine wichtige Rolle. Der Manga "Pokémon Adventures" - auf Deutsch erschienen als "Pokémon - Die ersten Abenteuer" - zeichnet ein wirklich düsteres Bild: Als Rot gegen Ende des ersten Bandes nach Lavandia kommt, sind alle Einwohner missmutig. Nur Mr. Fuji spricht mit Rot und erklärt ihm, die schlechte Stimmung stamme von den Geistern im Pokémon-Turm. Gerade neulich habe außerdem ein anderer Trainer aus Alabastia den Turm betreten und sei bis jetzt nicht wieder heraus gekommen - Rots Rivale Blau! Rot eilt ebenfalls in den Turm und findet Blau unter der Kontrolle der Geister, während die Geister wiederum von Arenaleiter Koga kontrolliert werden, welcher in diesem Manga, wie auch andere Arenaleiter, auf der bösen Seite steht. In diesen Kapiteln tauchen auch unheimliche Enton-Zombies auf, und von hier stammt auch die berühmte Szene, in der Blaus Glutexo mit einem ordentlichen Schlitzer dem Arbok von Pyro den Kopf abschlägt. Erst einen ganzen Story Arc später wird beiläufig erwähnt, dass das Arbok die Attacke überlebt hat, und ich bin mir nicht sicher, ob das von Anfang an so geplant war oder erst im Nachhinein dazu gedichtet wurde, weil man diese Szene doch nicht mehr als so passend für "Pokémon" ansah. Der Anime dagegen stellt Lavandia dagegen eher lustig und überhaupt nicht gruselig dar: Ash hatte in der Folge zuvor Probleme mit den Psycho-Pokémon von Arenaleiterin Sabrina in Saffronia City. Er bekommt den Tipp, dass die Psycho-Pokémon eine Schwäche gegen Geister haben, und so macht sich Ash auf den Weg nach Lavandia, um dort ein Geist-Pokémon zu fangen. Im Pokémon-Turm ärgern ihn Nebulak, Alpollo und Gengar mit ihren Streichen, was überhaupt nicht atmosphärisch, sondern schon fast albern dargestellt wird, doch am Ende kommt zumindest Alpollo mit und verhilft ihm zum Sieg gegen Arenaleiterin Sabrina - zwar auf etwas andere Weise, als Ash sich das vorgestellt hatte, aber egal, Sieg ist Sieg! Und in der 2. Generation hat der Geisterturm von Lavandia schließlich komplett ausgedient: In "Pokémon Gold & Silber", die drei Jahre nach "Rot & Blau" spielen, steht zwar der Turm als Gebäude noch, darin befindet sich allerdings kein Friedhof mehr, sondern ein Radiosender. Die Gräber dagegen wurden in ein separat stehendes "Haus der Erinnerungen" ausgelagert, welches allerdings großteils nicht öffentlich zugänglich ist. Oh, und zuletzt nicht zu vergessen: Seit 2017 hat die Lavandia-Musik auch Einzug in "Pokémon GO" erhalten. Während des alljährlichen Halloween-Events wird die typische Overworld-Musik des Nachts immer durch einen coolen Remix von "Lavandia" ersetzt - so auch dieses Jahr wieder! Parallel zum gleichzeitigen Spawn unzähliger Geist-Pokémon kann man sich dadurch fühlen, als würde man tatsächlich selbst durch Lavandia spazieren. Was ist eigentlich das da hinten für ein Turm ...?