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Autismus

Der nachfolgende Artikel wurde im Jahr 2004, als ich 20 Jahre alt war, von meiner Mutter geschrieben. Er beschreibt sehr gut am Beispiel von mir selbst das Phänomen Autismus - und auch meine Entwicklung, denn von dem verhaltensauffälligen Kind, das ich früher war, ist heute gar nichts mehr übrig geblieben!

Ich habe übrigens lange ein Geheimnis daraus gemacht, dass ich Autist bin. Erst jetzt, im Februar 2024, habe ich mich im Rahmen eines Reviews zum Film Wochenendrebellen (mein neuer absoluter Lieblingsfilm) entschlossen, mich doch zu "outen". Warum ich es bisher geheim gehalten habe, steht ebenfalls im besagten Review. Aber jetzt: Warum eigentlich nicht? Ist doch nichts Schlimmes dabei!

Stephans Weg

geschrieben von meiner Mutter im Jahr 2004

Unser Sohn Stephan ist heute 20 Jahre alt und kommt mit dem Asperger-Syndrom inzwischen ganz gut zurecht.

Die Diagnose wurde gestellt, als er fast zwölf Jahre alt war. Sein Leben - und unser Leben mit ihm - war bis dahin sehr schwierig. Für ihn, weil er immer gequält und gemobbt wurde, für uns, weil wir Eltern nicht wussten, wie wir mit unserem Kind umgehen und vor allem, wie wir ihm helfen konnten. Denn dass er Hilfe dringend benötigte, das war offensichtlich.

Stephan hat sehr viele Störungen in der Sensorischen Integration, vor allem im Gehör (auditive Wahrnehmung), im Tastsinn (taktile Wahrnehmung) und im tiefenmuskulären Bereich. Seine Körperwahrnehmung und seine Motorik sind eine Katastrophe und wegen Geräuschen konnte es zu schweren Panikanfällen kommen. Während der Pubertät litt er sehr häufig unter starken Schwindelanfällen und Migräne.

Obwohl seine Probleme im Umgang mit anderen Kindern und überhaupt mit Menschen bereits im ersten Lebensjahr deutlich wurden, wurde er leider dennoch erst so spät diagnostiziert.

Er ließ sich nicht anfassen, er sprach nicht mit anderen - wenn, dann durch mich - er vermied die Gesellschaft mit Kindern und wenn ihm etwas zu viel wurde, begann er zu kreischen und dem Ausgang zuzustreben. Er benutzte "ich" und "du" falsch, stellte keine "Warum?"-Fragen und ließ beim Spielen mit Figuren diese nie in direkter Rede sprechen, sondern er kommentierte eigentlich das Geschehen so, als ob er eine Geschichte vortrage.

Außerdem hatte er massive Ängste vor Dunkelheit, vor engen Räumen, in fremden Wohnungen, in Turnhallen, in Straßenbahnen und Bussen, in Aufzügen, im Schwimmbad ... es war kaum möglich, überhaupt irgendwo mit ihm hinzugehen.

Eine seiner Lieblingsbeschäftigungen war, sein großes Lastauto aufs Dach zu legen und an den Rädern zu drehen, und das Tollste war dann, noch Murmeln darüber laufen zu lassen. Überhaupt - Bälle und Murmeln! Damit hat er sich mit drei Jahren das Zählen und Rechnen beigebracht. Ein weiteres Vergnügen war, sich auf den Boden zu legen und stundenlang seiner Eisenbahn zuzusehen, wie sie im Kreis immer wieder an ihm vorbei fuhr.

Foto von Klein-Stephan (2) mit Murmelbahn
1986: Klein-Stephan spielt mit seiner Murmelbahn und kann die Murmeln bereits zählen!

Mitte der 80er Jahre konnte wohl ein Kind, das sich in komplizierten Sätzen ausdrückte und sich selber Rechnen und Schreiben beigebracht hat, nicht als autistisch diagnostiziert werden. Es war leichter, mich als "hysterische Mutter" abzustempeln, die mit ihrem Kind nicht zurecht kam, zumal ich ja - für damalige Verhältnisse - mit 35 eigentlich schon ziemlich alt für eine junge Mutter und zur "Glucke" prädestiniert war. Er bekam dann aber doch Diagnosen wie: Hyperaktivität, MCD, sogar Schizophrenie war dabei.

Stephan war nicht der zurückgezogene Autist (jedenfalls nicht, wenn er "unter Leuten" war), der ruhig in seiner Welt versunken da saß, sondern er war auf jeden Fall einer, den man immer bemerkte. Ich musste ständig auf ihn aufpassen, konnte ihn keine fünf Minuten allein lassen, er war sehr schnell von den Eindrücken um ihn herum überfordert und wehrte sich massiv gegen alles und jeden. Ich musste mich rund um die Uhr mit ihm beschäftigen, sonst stellte er irgendetwas an, und es half weder gut zureden, schimpfen, strafen noch loben oder belohnen. Er verstand einfach nicht die Zusammenhänge zwischen seinem Tun und meiner Reaktion darauf, weder im positiven noch im negativen. Er war neugierig und interessiert, ging stets auf Entdeckerreise und war höchst anstrengend. Er galt als hochgradig verhaltensauffällig.

Im Regelkindergarten konnte er nicht bleiben, denn Begegnungen mit anderen Eltern wurden zum Spießrutenlaufen. Wir waren froh, dass er mit vier Jahren im Lebenshilfe-Kindergarten aufgenommen wurde. Zunächst auch nicht für die ganze Zeit sondern nur den halben Tag. Aber hier war er zumindest nicht mehr der Einzige, der irgendwo aneckte, der anders war, hier war jeder anders als die anderen, das tat ihm gut. In dieser Zeit bekam er wieder Selbstvertrauen und erwarb soziale Kompetenzen für den Umgang mit anderen. Allerdings musste er mit Beginn der Schulpflicht aus diesem geschützten Bereich wieder heraus, was ihm sehr große seelische Probleme bereitete.

Als er in die Schule sollte, war eigentlich nur klar, dass es keine Schule für ihn gab. Wir hatten bei verschiedenen Sonderschulen vorgesprochen (Sprachheilschule, Sonderschule für Körperbehinderte) die ihn aber wegen seiner Unruhe nicht aufnehmen wollten. Die Förderschule und erst recht die Schule für Geistig-Behinderte kamen nicht in Frage, da er zu intelligent war.

So kam er dann in die normale Grundschule. Er war dort ganz allein, ohne Schutz, es war die schlimmste Zeit in seinem Leben (und im Leben von uns Eltern) die sich bis ins erste Jahr Gymnasium hinzog. Sooft es möglich war, ließ ich ihn zu Hause, um ihn etwas aus der "Schusslinie" zu nehmen. Vom fachlichen Unterrichtsstoff versäumte er dabei kaum etwas, da er seinen Klassenkameraden weit voraus war.

Foto meiner Einschulung
1990: Erster Schultag - noch lache ich, denn ich ahne ja nicht, was mich in der Schule für Probleme erwarten!

Stephan reagierte auf Ungerechtigkeiten, Hänseleien, Überforderungen mit starken Abwehrreaktionen, wenn er nicht ausweichen konnte. Genau das machte es interessant, ihn in den Pausen auf dem Schulhof und auch während des Unterrichts zu provozieren. Da kam wenigstens "Leben in die Bude". Da er aufgrund seiner heftigen Reaktionen den Zorn der Lehrer und Miteltern auf sich zog, galt er als "böse", oder "aggressiv", keiner glaubte, dass er eigentlich Opfer war. Erschwerend kam hinzu, dass er seit seiner Geburt einen Kopf größer war als Gleichaltrige.

Weil er ein sehr guter Schüler war, bekam er die Empfehlung zum Gymnasium. Hier war der Schulalltag für ihn noch unübersichtlicher als in der verhältnismäßig kleinen Grundschule. Ständiger Lehrerwechsel und der Lärm in den Pausen machten ihm sehr zu schaffen.

So kam es also dort weiter zu gravierenden Schwierigkeiten und Beschwerden, und Stephan wurde stationär in die Kinder- und Jugend-Psychiatrie aufgenommen. Er blieb dort etwa vier Monate. Endlich gerieten wir an einen wirklich kompetenten Psychiater, und endlich klärte sich das Bild. Das psychologische Profil sagte ganz deutlich aus, dass Stephan von sich aus überhaupt keine Neigungen zu Aggressivität hat. Außerdem wurde ihm ein sehr hoher IQ bescheinigt, und er bekam nun die Diagnose Asperger-Syndrom. Damit und mit einer Begleitperson kam er dann Ende des 5. Schuljahres aufs Gymnasium zurück, in seine alte Klasse, dank des Professors, der sich sehr dafür eingesetzt hatte.

Sein Verhalten in der Schule verbesserte sich ab diesem Zeitpunkt deutlich. Das ist hauptsächlich dem qualifizierten, kompetenten Schulbegleiter zu verdanken, der nach weiteren zwei Jahren diese Aufgabe von einer Kollegin übernahm und mit seiner einfühlsamen Art in der Lage war, Stephans Schwierigkeiten und Gefühle zu erkennen und entsprechend einzuwirken. Auch die Mitschüler und die Lehrer wurden über das Phänomen Autismus aufgeklärt und so wurde es für beide Seiten leichter, miteinander umzugehen.

Die Begleitung hinderte Stephan nicht daran, seine Selbständigkeit zu entwickeln, sondern im Gegenteil, förderte diese Entwicklung.

Stephan hatte es bereits gelernt, in der näheren Umgebung geübte und bekannte Wege allein zu Fuß zurückzulegen, was wir als Eltern sehr unterstützten. Er holte sein Taschengeld selbst von der Bank und kaufte seinen Schulbedarf und seine Zeitschriften allein ein. Dies war aber nur möglich, weil im Vorfeld bei diesen "Stationen" mit ihm die Vorgehensweise eingeübt und besprochen wurde und das dortige Personal ihn kannte, über seine Behinderung informiert war und entsprechend auf ihn einging, bzw. unkommunikatives Verhalten tolerierte.

Wir Eltern waren ständig bemüht, Stephans Aktionsradius zu erweitern, jedoch benötigte dies Zeit, denn jede neue Situation in einer neuen "Anlaufstelle" musste zunächst in Begleitung geübt und gefestigt werden und konnte erst dann mit vorsichtiger Loslösung von ihm allein ausgeführt werden. So hatte Stephan bereits durch unsere Begleitung gelernt, viele Situationen, die ihm sehr unangenehm waren, dennoch auszuhalten. Allerdings waren die Übungsmöglichkeiten für uns Eltern an der Schultür beendet. Jetzt konnte Stephan durch den Schulbegleiter endlich auch in diesem besonders wichtigen Umfeld weiter gefördert werden.

Foto von mir im Bayerischen Wald (1996)
1996: Wanderurlaub im Bayerischen Wald - same procedure as every year! Routine und Gewohnheiten sind für uns Autisten wichtig.

Ohne Begleitung war Stephan so sehr damit beschäftigt, das unbekannte Umfeld zu überwachen und zu sichern, dass an eine sinnvolle Teilnahme am Unterricht oder an Aktivitäten nicht zu denken war. Dafür hatte er jetzt seinen "Schutzengel". Er konnte sich endlich ohne Stress auf den Unterricht einlassen und auch in der Pause brauchte er keine Angst mehr zu haben. Jetzt wurden Situationen und Verhaltensweisen der Mitschüler erklärt, Konflikte "aufgedröselt" und durch das Erklären von Situationen und das Vorgeben und Einüben von alternativen Lösungsmustern konnten Krisen verhindert werden. Stephan bekam mehr Verständnis für "das Leben", ein besseres Selbstbild, Vertrauen in seine Fähigkeiten, so dass immer weniger kritische Situationen entstanden. Dadurch wurde eine weitere Verselbständigung erreicht, denn er konnte sich am Ende in der Schule allein adäquat verhalten und seinen Aktionsradius vergrößern. Die Wirkung war verblüffend, Stephan wurde in einer Schule mit 1000 Schülern und 100 Lehrkräften zum unauffälligen Schüler!

Endlich konnte auch ein Kontakt zu den Mitschülern hergestellt werden. Ohne die Begleitperson war Stephans Möglichkeit, am Leben teilzuhaben, stark eingeschränkt. Nun konnte eine weitere Vereinsamung verhindert werden. Diese Aufgaben hätten allein von den Lehrern, auch in einer noch so kleinen Klasse, nicht erfüllt werden können. Natürlich erfolgte diese Entwicklung nicht "über Nacht", es waren insgesamt sechs Jahre Begleitung notwendig. Allerdings hat sich diese Investition gelohnt, denn Stephan ist nun als junger Erwachsener so selbständig, dass er weder in Jugendgruppen noch bei Erwachsenen auffällt und ein Leben ohne gravierende Einschränkungen führen kann.

Stephan ging bis nach dem Abschluss der 10. Klasse aufs Gymnasium (die mittlere Reife hat er trotz der hohen Intelligenz nur mit Müh und Not geschafft, da die Interpretationsinhalte in allen Fächern für ihn große Hürden darstellten) und danach zwei Jahre auf die Gewerbeschule - Fachbereich Technik und Medien / Kommunikationstechnik. Beim Eintritt in diese Schule war seine Situation eine ganz andere als bei den Schulen zuvor. Er kam mit dem Schwerbehinderten-Status in eine Klasse von fast Erwachsenen. Er wurde akzeptiert und musste nicht wieder unter Mobbing leiden. Die Schulbegleitung konnte immer weiter abgebaut und bald ganz beendet werden.

Stephan hat inzwischen Interessen auf dem Gebiet Computer und Programmieren. Er verfügt über gute Kenntnisse, die von seinen Klassenkameraden anerkannt wurden. Nun hat er eine abgeschlossene Berufsausbildung im IT-Bereich und die Fachhochschulreife erreicht. Das nächste Ziel ist ein Fachschul-Abschluss als Informatiker für Multimedia. Inzwischen hat er bei einem Berufsförderungswerk die entsprechende Ausbildung begonnen. Wie die Rückmeldungen der Dozenten zeigen, ist dies der richtige Weg für ihn, seine Arbeiten werden sehr gut bewertet.

Foto von meiner Rede bei der Abschlussfeier der Gewerbeschule
2001: Abschlussfeier an der Gewerbeschule: Ich halte eine Rede über HTML vor Publikum - und ich hab's überlebt!

Es ist bis heute so geblieben, dass Stephan von sich aus fremde Menschen ungern anspricht und auch Telefonieren gehört immer noch nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Ein "Partylöwe" wird er wohl auch nie werden, aber er kommt sehr gut allein mit sozialen Situationen zurecht und hat Freude an gemeinschaftlichen Aktivitäten.

Seine Geräuschempfindlichkeit scheint sich gebessert zu haben. Zwar hört er immer noch extrem gut, aber er hat gelernt, mehr auszuhalten.

Seine Motorik ist immer noch nicht normal, wenn er sich in Erregung befindet und spontan bewegt, geht häufig etwas schief, er muss sich auf alles konzentrieren, er bewegt sich "mittels Intellekt". Aber im Vergleich zu früher sind seine Bewegungen wesentlich unauffälliger. Zum Sport-Treiben hat es jedoch nicht gereicht, aber er wandert sehr gern.

Er ist selbständig geworden. Er legt seine Wege mit Bus und Bahn allein zurück, was vor Jahren undenkbar gewesen wäre. Den Führerschein wird er nicht machen, da er Abstände und Geschwindigkeiten für den Straßenverkehr nicht gut genug abschätzen kann.

Seit der Diagnose geht es Stephan auch psychisch viel besser. Wir haben ihm das Asperger-Syndrom erklärt. Er weiß, dass er kein schlechter Mensch ist, dass seine Probleme durch eine angeborene Hirnfunktions-Störung hervorgerufen wurden, das hat ihm gut getan. Allerdings gestatten wir nicht, dass er das Asperger-Syndrom als Entschuldigung missbraucht, um sich davor zu drücken, weiter an sich zu arbeiten.

Dank des Internets ist Stephan inzwischen auch kein einsamer Autist mehr sondern ein recht glücklicher Jugendlicher mit vielen Kontakten in ganz Deutschland. Er hat eine eigene Homepage eingerichtet und ist Mitglied in mehreren Internet-Foren, wo es um bestimmte komplizierte Computerspiele geht. Stephan wird in diesen Gruppen anerkannt und seine Meinung ist gefragt. Inzwischen nimmt er auch an Gruppentreffen teil, wobei er die anderen Mitglieder persönlich kennen gelernt hat. Niemand grenzt ihn aus oder mobbt ihn, anscheinend kann er sich gut anpassen und seine Verhaltensauffälligkeiten sind nicht mehr so ausgeprägt. Das macht uns zuversichtlich, was seine Zukunft betrifft.

Foto vom Pokémon Day 2006 in Koblenz
2006 beim Pokémon Day in Koblenz: Es ist voll und laut, aber: Was? Der Stephan ist Autist? Seit wann denn, das merkt man ja gar nicht!

Er wird er wohl weiter darauf angewiesen sein, dass es jemanden gibt, der es gut mit ihm meint und ihn in manchen Bereichen ab und zu unterstützt oder nach ihm schaut, aber ich denke, er wird dennoch sein Leben weitestgehend selbständig meistern. Wir gehen davon aus, dass er nach Beendigung seiner Berufsausbildung auf dem ersten Arbeitsmarkt eine gute Stelle bekommen und zur Zufriedenheit ausführen wird. So wird er auch finanziell unabhängig sein.

Natürlich wird er immer Autist bleiben, aber die Jahre haben gezeigt, dass er lernen konnte, mit den Beeinträchtigungen besser umzugehen. Von unangenehmen Situationen wird er nicht mehr so aus dem Gleis geworfen, dass er in Panik gerät.

Für ihn ist es nun ganz selbstverständlich, dass er Asperger-Syndrom hat. Im Moment leidet er nicht nicht darunter.

Wir wissen, dass wir vor acht Jahren etwas für die Behörden ganz Ungewöhnliches beantragten, nämlich einen Schüler auf dem Gymnasium durch eine Begleitperson zu unterstützen. Die Einstellung war: "Wenn der klug genug fürs Gymnasium ist, wieso braucht er eine Begleitung?". Wir Eltern sind sehr froh, dass Stephan diesen Weg gehen konnte. Für ihn war dies der richtige und es hat sich gelohnt.

Stephans Beispiel zeigt auch, dass es notwendig ist, die Schulbegleitung durch kompetente, empathiefähige Fachkräfte durchführen zu lassen. Nur so können die Chancen, die sich durch eine Schulbegleitung bieten, wirklich optimal wahrgenommen werden.

Wir wünschen uns, dass Stephans Geschichte dazu beitragen kann, nicht nur jungen Eltern mit Asperger-Kindern Mut zu machen, sondern dass sie auch den zuständigen Stellen zeigt, dass eine Investition in eine intensive Förderung sich letztendlich auszahlt.

Eigener Nachtrag: Die weitere Entwicklung

Wie gesagt, entstand der vorangegangene Artikel im Jahr 2004, als ich 20 Jahre alt war, durch meine Mutter. Seitdem hat sich nochmal viel getan!

Im Jahr 2010 habe ich mein Informatik-Studium an der SRH Hochschule Heidelberg mit einem Notendurchschnitt von 1,3 erfolgreich abgeschlossen. Wie meine Mutter damals bereits vorausgesehen und gehofft hatte, fand ich dann tatsächlich eine Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt: Seit 2011 arbeite ich bei einer SEO-Agentur in der Nähe von Frankfurt.

Die Entfernung zur Arbeitsstelle machte einen Umzug notwendig. Während "Normalos" wahrscheinlich sofort umgezogen wären, musste ich mir zuerst viele Jahre nervenaufreibende Fernpendelei per Bahn mit im Idealfall zwei Stunden einfacher Wegstrecke antun, bevor ich mich ab 2017 endlich doch ganz langsam mit dem Gedanken anfreundete, das Elternhaus hinter mir zu lassen. Der endgültige Umzug fand 2019 statt.

Viel wichtiger allerdings: Im Berufsalltag spielt es überhaupt keine Rolle, dass ich Autist bin! Es steht in meiner Personalakte, aber wer es nicht weiß, der würde auch nicht auf die Idee kommen. Allerdings ist es mir wichtig, dass ich als Techniker einfach am Computer sitzen und meine Arbeit machen kann. Sämtlicher Kundenkontakt wird von den Kollegen aus dem Kundendienst abgefangen, worüber ich sehr froh bin, denn selbst mit den Kunden zu telefonieren, würde mir immer noch extrem schwer fallen.

Was mir dagegen überhaupt nicht schwer fällt, ist Radio-Moderation: Seit 2006 bin ich hobbymäßiger Webradio-Moderator, heute bei Kibo.FM. Ich hab mir dieses Hobby zwar nicht bewusst ausgesucht, sondern bin durch Zufall irgendwie reingerutscht, aber es macht mir großen Spaß und ich denke nicht im Traum daran, damit aufzuhören. Im Radio habe ich überhaupt keine Probleme damit, zu vielen fremden Menschen zu sprechen - womöglich liegt es daran, dass ich meine Hörer nicht sehen kann. Auf einer Bühne vor leibhaftigem Publikum zu sprechen, kostet mich dagegen bis heute viel Überwindung. Allerdings sitze ich durchaus mal für einige Stunden am Stand, wenn wir uns mit Kibo.FM auf einer Convention präsentieren.

Ebenfalls überhaupt keine Überwindung mehr kostet es, um die ganze Welt zu reisen. Nachdem ich in meiner Kindheit und Jugend immer nur mit meinen Eltern in immer dasselbe Ferienhaus im Bayerischen Wald gefahren bin, erkunde ich seit 2013 ohne Eltern, dafür mit meinem ebenfalls autistischen besten Freund Kilian fremde Städte und Länder: Paris, London, Schweden, sogar Japan, und als nächstes Ziel stehen die USA an.

Der Beruf, der Umzug, das Radio, die Reisen - all das war bestenfalls noch vage Zukunftsmusik, als vor 20 Jahren der vorangegangene Artikel entstand. Aber das zeigt: Die Entwicklung hört nicht auf! Und so bin ich gespannt und auch sehr zuversichtlich, was die Zukunft noch bringen wird ...

Foto vom Kilian und mir in Kyoto, Japan (2023)
April 2023: Zwei Autisten im Fushimi-Inari-Taisha in Kyoto, Japan

Erstellt am 17.02.2024 • Letzte Änderung: 20.02.2024 • ImpressumDatenschutzCookie-EinstellungenNach oben